Home » Reiseführer Deutschland » Baden-Württemberg » Schwäbische Alb » Fischerviertel Ulm

Kein Gast verlässt Ulm, ohne zuvor durch das Fischerviertel geschleust worden zu sein. Schließlich erwartet ihn hier das schiere Idyll: eine konzentrierte Folge von Gassen, Brücklein und Plätzen, Fachwerk im Überfluss und eine Fülle an heimeligen Gaststätten und Cafés. Seit Ende der 1970er-Jahre hat sich das einstige Handwerkerviertel zum Nobelquartier gemausert. Die historisch adäquateste Art, in das Fischerviertel vorzudringen, führt den Katharinenberg hinab. So heißt die uralte, kaum beachtete Steige an der Südwestecke des Schwörhauses, auf der zur Pfalzzeit Esel die Mehlsäcke und andere Lebensmittel von den Mühlen und Wirtschaftsgebäuden an der Blau zur Pfalz auf dem Weinhof hoch geschleppt haben. Auf dem Weg hinab streift man die Buckelquader der Staufenmauer, die im 13. Jahrhundert den Pfalzbereich und zumindest stellenweise die damalige Stadt schützten. Unmittelbar vor dieser Mauer beugt sich das Schiefe Haus (Schwörhausgasse 6) über die Blau. In der Geschichte dieses populärsten Ulmer Profanbaus und seiner Bewohner spiegelt sich die Geschichte des Fischerviertels. Als das Schiefe Haus anno 1443 von einem kleineren Vorgängerbau in seine heutige Dimension umgebaut wurde, lag es noch außerhalb der schützenden Stadtmauern. Denn als die ehemalige Stauferstadt von 1316 an stark erweitert wurde, blieb der östliche Teil des Fischerviertels um das heutige Fischerplätzle außerhalb der Befestigung. Deren Mauer führte vom Fischerturm im Bereich der heutigen Wilhelmshöhe an der Donau über den Saumarkt und die Häuslesbruck bei der Forelle hinweg fast rechtwinklig auf die Staufenmauer zu.

Der neben den Fischern wohl älteste Wirtschaftsfaktor des Fischerviertels waren zweifellos die Mühlen. Es gibt sogar Vermutungen, wonach der alemannische Herzogs- und spätere Königshof deswegen auf den Weinhofberg gelegt wurde, weil unterhalb desselben die Möglichkeit bestand, an der Blau eine Mühle zu errichten. Die wohl älteste war die Isaakenmühle (heute Fischergasse 17), die zum „Stadelhof“ gehörte, dem Wirtschaftshof der Pfalz. Insgesamt lagen sieben Mühlen an den beiden Blauarmen im heutigen Fischerviertel. Die nördlichste ist die Lochmühle, die 1977 als eines der ersten Objekte in Ulm restauriert wurde.

„Ulmer Geld regiert die Welt“ lautet ein bekannter Spruch. Doch der galt mit Sicherheit nicht für jene schlechten Münzen, die während des Dreißigjährigen Krieges in dem Haus geprägt wurden, das heute als „Ulmer Münz“ (Schwörhausgasse 4) bezeichnet wird. Dieser Name ist insofern problematisch, als jenes Färberhaus gerade mal vier Jahre lang, von 1620 bis 1624, als Filiale der eigentlichen Münzstätte diente. Die war in der Burkhardsmühle untergebracht, welche ebenfalls an der Blau lag, aber inzwischen zerstört ist. Die massenhafte Produktion eines minderwertigen Geldstücks hatte es damals erforderlich gemacht, die Produktion auf ein weiteres Gebäude auszudehnen.

Neben der Ulmer Münz und dem Schiefen Haus gehören auch das Schöne Haus und das Zunfthaus zu den Fixpunkten auf dem Besuchsprogramm des Fischerviertels. Vor dem Schönen Haus (Fischergasse 40) erinnern eine Fischerzille und ein Bild mit dem einstigen Fernziel Belgrad an die Meister der Schiffleute, die dieses im Kern wohl spätmittelalterliche Haus einmal bewohnt haben. Das benachbarte so genannte „Zunfthaus der Schiffleute“ zeigt seit seiner Restaurierung 1977 wieder den vier Meter hohen Hallenraum, in dem die Fischer früher im Winter ihre Zillen aufstellten. Oben hat der Ulmer Schifferverein seinen Sitz. Dort bewahrt er auch die Requisiten fürs Fischerstechen auf, das in der Regel alle vier Jahre zelebriert wird. Das älteste Gasthaus in diesem Bereich ist die Forelle, auch „Häusle“ genannt, von der die „Häuslesbrück“ ihren Namen hat. Schon 1626 hat Jakob Schwenk, Wirt unter den Fischern, vom Rat die Erlaubnis erhalten, dort Leute zu bewirten. Der Name „Forelle“ ist seit 1695 nachweisbar.

Das Herzstück des Fischerviertels ist der Saumarkt. Zwar heißt er offiziell „Schweinmarkt“, doch wird gemeinhin dieser Name als unnötige Anbiederung an das Schriftdeutsche abgelehnt. Allzu alt dürfte jedoch weder die eine noch die andere Bezeichnung gewesen sein, da der noch im 20. Jahrhundert abgehaltene Schweinemarkt dort wohl erst im 18. Jahrhundert eingerichtet worden ist. Der Saumarkt gilt als das Zentrum der „Räsen“, wie sich die Ureinwohner des Fischerviertels und Nachfahren der Fischer und Schiffleute nicht ohne Stolz nennen. „Räs“ bedeutet, frei übersetzt, „rau“ und kennzeichnet die Umgangsformen dieser Spezies. Eines ihrer Individuen, Wilhelm Molfenter, genannt „Schelle“, begrüßte die Truppen, die 1871 aus dem deutschfranzösischen Krieg zurückkehrten, auf eine höchst eigenwillige Weise. An einem Flößerseil hängte er ein umkränztes Bismarck-Bild aus dem Fenster nebst einem Schild mit dem Spruch: „Auch auf dem Markt der Säue wohnt echte deutsche Treue. Und hier an dem Strick hängt Deutschland größtes Glück.“ Zwar ist, der Überlieferung zufolge, die Polizei gegen diese politisch unkorrekte Befindlichkeitsäußerung eingeschritten. Doch der Spruch, zumindest die ersten beiden Zeilen, wurde unsterblich und prangt heute in Stein gemeißelt am Haus Schweinmakt 3. Früher hatte das Haus Schweinmarkt 1 sogar mit einer lateinischen Version aufgewartet: „Et in foro porcorum stat fides firma Germanorum.“

Am prächtigsten präsentiert sich der Saumarkt, wenn sich dort alle vier Jahre der Festzug zum Fischerstechen formiert. Dreieinhalb Hundertschaften kostümierter Teilnehmer wuseln durcheinander, um ihren Platz im Festzug einzunehmen. Dazwischen tummeln sich die Pferde der berittenen Stadtgarde und düngen das Kopfsteinpflaster. Im Schatten der Bastion Lauseck ertönen die Trommeln der Tambours, zu denen Bauer und Bäure und die Schalksnarren die alte Geschichte vom genasführten Landmann tanzen. Wenn nachmittags das Stechen vollzogen ist, feiern Sieger und Besiegte sich auf dem nahen Fischerplätzle bis in Nacht hinein. Dann ist das Fischerviertel, auch wenn es von auswärtigen Besuchern überquillt, irgendwie wieder in der Hand der Räsen.

Wer wohnte in diesem Bereich, der anscheinend nicht schützenswert erschien? Das älteste Soziogramm des Fischerviertels verdanken wir dem Dominikanerfrater Felix Fabri. Der schrieb anno 1488: „Auf der Südseite am äußersten Teile der Stadt gegen Westen, woher die Donau kommt, ist der hohe und feste Fischerturm, der deswegen so heißt, weil neben ihm die Wohnungen der Fischer der Wassertiere und der Fischerinnen einfältiger Menschen sind.“ Der Interpretationsspielraum dieser Aussage scheint nicht sehr groß und gibt Grund zur Annahme, dass das Fischerviertel damals im selben Ruf stand wie heute das Hafenviertel mancher anderen Stadt.

Kurz bevor Fabri solchermaßen jene Ulmer Fischerinnen denunzierte, war im Jahr 1480 die neue Donaustadtmauer, heute eines der Wahrzeichen Ulms, „in die reißendste Strömung der Donau“ gebaut worden. Damit war auch dieser Teil des Fischerviertels vor feindlichen Kugeln geschützt. Im Bereich des heutigen Fischerplätzles erhob sich auf der Stadtmauer der Einlassturm. Darunter öffnete sich ein schmaler Mauerdurchbruch, das Einlasstor, durch das nach dem abendlichen Schließen der anderen Stadttore späte Gäste in die Stadt gelangen konnten – allerdings nur vom anderen Donauufer aus, von wo die Fischer sie mit ihren Zillen übersetzen mussten. Sie fuhren durch das schmale, noch heute in der Stadtmauer erkennbare Tor in den „Gumpen“, eine Art kleinen Hafen innerhalb der Mauer.

Die heutigen Zugänge zum Donauufer sind erst in jüngerer Zeit in die Mauer gebrochen worden. Auch das Loch am Ende der Vaterunsergasse. Die Schauergeschichten, wonach hier in Pestzeiten die Kadaver der Seuchenopfer in die Donau geworfen worden seien und wonach man ihnen auf dem Transport durch besagte Gasse ein letztes Vaterunser gemurmelt habe, gehören in den Bereich der Sage. Die Gasse heißt so, weil sie zu durchschreiten gemäß der traditionellen Zeitmessung „ein Vaterunser lang“ dauerte.

Zur Zunft der Fischer und Schiffleute gehörten auch die Garnsieder. Die betrieben ihre Werkstätten seit dem Dreißigjährigen Krieg aus Sicherheitsgründen innerhalb der Stadt. Die Reste einer solchen Garnsiede sind 1999 bei der Sanierung des Hauses Schwörhausgasse 3 ausgegraben worden. Sie sind wegen ihres Seltenheitswertes erhalten und in ein kleines Museum verwandelt worden.

Das Gesicht des Fischerviertels wurde jedoch am markantesten durch die Gerber geprägt, weswegen man das Gebiet entlang der Blauarme südlich der Neuen Straße korrekter als „Fischer und Gerberviertel“ bezeichnet. Dieses geruchsintensive Handwerk, das darin besteht, in einem künstlichen Fäulnisprozess Fleisch und Fett von der Lederhaut der toten Rinder zu trennen, benötigt viel Wasser. Die Gerber, deren Zunft 1786 noch 22 Meister zählte, bauten daher ihre Häuser an die Blau, versahen sie mit Plattformen, von wo aus sie die Häute spülen konnten, und verschalten die Fassaden mit Holz. So schützten sie sie vor der scharfen Brühe, die von den Häuten tropfte, welche auf den Galerien der oberen Stockwerke aufgehängt wurden. Es sind diese Gerberhäuser, die der mittlerweile mustergültig restaurierten „Blaufront“ entlang der Großen Blau ihr charakteristisches Aussehen verleihen und in markantem Kontrast stehen zu der gegenüberliegenden niedrigen ehemaligen
Reiterkaserne aus dem Jahr 1702. Die Reihe der Gerberhäuser führte ursprünglich weiter bis zur Steinernen Brücke. Doch der nördlich der heutigen Neuen Straße gelegene Teil der Gerbergasse ist im Krieg zerstört worden.

0 Comments

Schreibe einen Kommentar

Avatar placeholder

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert